Personenzentrierung, Digitalisierung und all die anderen Baustellen
Liebe Fernstudium-Community,
wie in meinem letzten Blog bereits angekündigt, wird es diesmal um die aktuellen Herausforderungen in der Behindertenhilfe und dem Teilhabemanagement gehen.
Zu den größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnten gehört der mit der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) eingeleitete Paradigmenwandel. Die zentrale Zielsetzung des BTHG ist es, den Menschen mit Behinderung eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen,die der Würde des Menschen entspricht und volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht (nach Paragraph 90, Abs.1, SGB IX). Die Menschen mit Behinderung sollten diesbezüglich selbstbestimmt entscheiden, wie, wo und mit wem sie leben möchten, was per se den Weg zur einer inklusiven Gesellschaft einläuten sollte. Damit einher geht auch die konsequente Umsetzung der Personenzentrierung in der Praxis. Nur lässt es sich leider in der Praxis nicht so ganz einfach umsetzen, auch im Hinblick auf den Wohnungsmarkt. Es ist in der Realität eine Illusion zu glauben, dass der Wohnungsmarkt für Menschen mit schweren Behinderungen etwas hergibt! Statt der Wohnform, ist jetzt nur der individuelle Hilfebedarf entscheidend. Und zwar unabhängig von welchem Leistungsanbieter.Also die sozialpolitische Wunschvorstellung war die Enthospitalisierung aller Menschen mit Behinderung, was per se erstmals toll klingt. Statt Exlusionsprozesse sollte es zur vollständigen Inklusion in der Gesellschaft in allen Lebensbereichen (Wohnen, Arbeit, Schule,Freizeit,etc.) kommen. Auch das klingt erstmal toll. Bitte versteht mich nicht falsch, ich freue mich wirklich sehr, dass sich die Rechtslage für Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren so verbessert hat und ich setze mich wirklich mit vollem ❤️ für die Menschen mit Behinderung ein. Und auch dafür, dass sie mehr Teilhabemöglichkeiten und Chancen bekommen.Ebenfalls freue ich mich auch wirklich über jeden Betroffenen, der durch das BTHG somit eine höhere Lebensqualität erreicht. Aber ich stelle in der Praxis sehr viele Barrieren fest und ich bin mir auch nicht sicher, ob die Gesellschaft eine vollständige Inklusion überhaupt will. Überall stoßen wir auf lauter Barrieren und Hindernisse in der Gesellschaft. Selbst nur beim inklusiven Besuch eines Kindergartens oder einer Schule eines Kindes gibt es diverse Hindernisse. Und im Erwachsenenbereich ist es auch so.
Aber was der ganze und wenn es nach dem sozialpolitischen Willen ziemlich zügig durchzusetzendem Umstrukturierungsprozess in allen Lebensbereichen mit den Fachkräften, mit den Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe macht, mit wie viel mehr zeitlichem und personellen Aufwand dieser Prozess in der Praxis verbunden sein wird, daran hat man sich wohl im Vorfeld keine Gedanken gemacht. Und das andere große sozialpolitische Ziel die steigende Ausgabendynamik in der Behindertenhilfe zu senken, wenn die Menschen mit Behinderung nicht mehr stationär sondern im eigenen Wohn- und Sozialraum versorgt werden, davon merke ich leider auch nichts. Das Gegenteil ist eher der Fall. Es ist nicht nur so, dass die Ausgaben ziemlich gestiegen sind, sondern auch der monstermässige bürokratischer Verwaltungsaufwand für uns.
Aufgrund der Personenzentrierung wurde also die Eingliederungshilfe aus dem System der Sozialen Hilfe herausgenommen, es ist jetzt ein eigener Fachdienst für Teilhabe, der zur den Rehaträgern gezählt wird. Konkret bedeutet dies, dass es zur Auflösung von existenzsichernden Leistungen und den personenzentrierten Fachleistungen kam, wodurch es zu unterschiedlichen Zuständigkeiten führt. Der Fachdienst ist jetzt nur für die Fachleistungen zuständig, für existenzsichernden Leistungen gibt es andere SGB-Träger.Was wiederum zur Zuständigkeitsschwierigkeiten führt.
Um die geeigneten personenzentrierten Fachleistungen für einen Betroffenen auswählen zu können, ist im Vorfeld ein Beratungsgespräch sowie eine umfangreiche Bedarfsermittlung durchzuführen. Die Bedarfsermittlung orientiert sich an der ICF und ! länderspezifisch ausgerichtet, während das Gesetz bundeseinheitlich ist. Dies führt in der Praxis ebenfalls zur gravierenden Problemen. Die Bedarfsermittlung an sich ist sehr umfangreich und besteht aus verschiedenen Formularbögen mit ca. 30 - 50 Seiten, je nach Bundesland. Und dafür sind schon längere Gespräche mit den Betroffenen erforderlich, um den Hilfebedarf aus allen Lebensbereichen erfassen zu können. Allein vom Bedarf her kommen wir aber nicht zur Leistung.
Natürlich hat dies auch sehr viele Vorteile: direkte Dialoggespräche mit Betroffenen, mit gesetzlichen Betreuern sowie den Einrichtungen sind so möglich.Die Betroffenen sollen sich aktiv am Prozess beteiligen, ihre Wünsche und Lebensvorstellungen äußern. Somit ist in vielen Fällen eine Bedarfsermittlung auf Augenhöhe mit den Betroffenen möglich. Dies gefällt mir an dem ganzen Verfahren am besten, dass wir uns in einen Interaktionsprozess auf einer sehr professionellen- menschlichen und wertschätzenden Basis begeben. Und auch, dass den Betroffenen jetzt viel mehr personenzentrierte Teilhabefachleistungen zustehen, finde ich sehr sinnvoll. Es gibt sogar teilweise wirklich tolle innovative Leistungen wie die Eltern- oder die Krankenhausassistenz, was es früher im System so gar nicht gab.
Aber anders als früher, wurde die ganze Vertragsgestaltung nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Fachkräfte viel komplexer ausgestaltet: früher gab es einen einzigen Leistungs-und Vergütungsvertrag, da war alles geregelt. Jetzt existieren mehrere Leistungs-und Vergütungsverträge einmal fürs Wohnen, einmal für Verpflegung, einmal für personenzentrierte Fachleistungen und ggf. noch eins für individuelle Fachleistungen. Die alten Verträge haben somit alle ihre Gültigkeit verloren und es gibt jetzt eine neue Leistungssystematik, die sehr,sehr komplex ist. Aufgrund von dieser existieren in der Praxis je nach Träger der Behindertenhilfe die unterschiedlichsten Modelle, die sich wiederum an den Lebensbereichen, die im SGB 9 genannt sind, orientieren. So gibt es für den Lebensbereich Lernen und Wissenanwendung unterschiedlichlichste Assistenzleistungen angefangen von der Assistenz zur Informationserfassung, über Probleme und Entscheidungen oder Konzentrationstraining, u.s.w. Aus jedem Lebensbereiche muss man für den Menschen mit Behinderung die passenden Assistenzleistungen auswählen, diese nach dem zeitlichen Aufwand pro Tag oder Woche erfassen und auf einen Durchschnittswert hochrechnen, um auf eine der angegebenen Intensitätsstufen zu gelangen. Zum Schluss werden dann die Assistenzstufen aus allen Lebensbereichen zusammengefasst. Aufgrund dieser neuen Leistungssystematik gibt es diverse Konzepte, die unterschiedlich ausgestaltet wurden. Zusätzlich besteht je nach Land ein Landesrahmenvertrag, der die Lebensbereiche umfassend beschreibt und Basisleistungen umfasst. Wobei dieser eigentlich nur die Urlaubs-, Krankheits- und nächtlichen Betreuungsumfang oder Rufbereitschaft festlegt. Aber im Regelfall nicht die gemeinschaftlichen Leistungen, die man bislang in jedem Pflege- oder Behinderteneintichtung vorgefunden hat. So z. B. die gemeinschaftliche Wäsche- oder Speiseversorgung aller Bewohner. Dies muss jetzt je nach Einrichtung noch zusätzlich von uns gebucht werden. Und wenn dann alles soweit geklärt ist, muss noch der Gesamtplan bzw. der Teilhabeplan erstellt werden.
Damit man das Ganze umsetzen kann, waren natürlich auch andere PC- Programme als die bisherigen erforderlich. Und so wie es halt mit neuen Programmen halt ist, haben diese noch ihre Kinderkrankheiten und natürlich muss das Personal dafür auch noch geschult werden. Erschwerend hinzu, kommt noch der parallel gleichzeitig stattfindender Digitalisierunsprozess mir der E-Akte dran. Auch dies läuft nicht so reibungslos.Von der obersten Führungsebene wurden Mehrarbeitsstunden angeordnet bis Ende des Jahres. Mindestens 10 - 15 Stunden pro Woche muss man machen, lieber würde man es sehen, dass man 20 - 30 Stunden mehr macht. Und zu all dem wurden dann noch 2 Kolleginnen längerfristig krank, so dass man diese nun auch vertreten muss. Ich kann leider auch wegen des Studiums maximal 10-15 Stunden mehr arbeiten. Mehr geht beim besten Willen nicht. Insgesamt hatte ich in den letzten Wochen und Monaten eine fast 60 Stunden-Woche bei der Arbeit, wenn man dann noch die Zeit für das Studium, für die Familie, Haushalt und sonstige Dinge dazu nimmt, komme ich locker auf eine 80 - 100 Stunden Woche.
Trotz all den oben dargestellten Anstrengungen sind wir noch nicht so weit wie wir sollten. Oh Mann, 🙈🙉 so viel im Rückstand war ich noch nie! Normalerweise habe ich immer geschaut, dass ich einigermaßen auf dem Laufenden bin! Aber ein kleiner Trost: auch den anderen vom Team geht es so wie mir.Und dass der Rückstand natürlich für zusätzlichen Frust und Ärger bei den Betroffenen und den Einrichtungen sorgt, ist ja auch irgendwie verständlich ! Zeitweise rufen täglich verzweifelte Einrichtungen und Dienste an und fragen nach, wo ihr Geld bleibt! Auch den Ärger der Kunden bzw. von den verzweifelten gesetzlichen Betreuern bekommen wir deutlich zu spüren. Verbale Attacken uns gegenüber nehmen deutlich zu!
Oh, Mann oh Mann, wo führt das Ganze noch hin?Ach so, was ich vergessen habe, aufgrund der ganzen Umstrukturierungsmassnahmen sind ja regelmäßige Fortbildungen auch Pflicht und das Projekt zur inklusiven Kinder-und Jugendhilfe muss natürlich auch nebenbei noch so laufen! Auch diverse Meetings wegen der Umstellungsphase stehen natürlich auch auf der Tagesordnung.
So langsam glaube ich, dass wir selbst wieder ganz dringend wieder Supervision brauchen, um den ganzen Frust loszuwerden! Aber die wurde uns aufgrund der enormen Kostensteigerung in der Behindertenhilfe gestrichen. Immer mehr Aufträge und Akten und immer weniger Fachkräfte, die dass alles noch stemmen können. Wir sind leider keine Roboter, sondern nur Menschen. Und die ganze Fahrerein in den Außendienst, die frisst auch unheimlich viel Zeit. Das ganze Team ist zunehmend frustriert und demotiviert.Hoffentlich, 🙏🏻wird es irgendwann mal wieder besser werden!
Wie sind denn eure Erfahrungen im Hinblick auf die Überstunden? Wie viele Überstunden müsst ihr denn aktuell machen? Und macht ihr auch die Erfahrung, dass eure Kunden bzw. Zielgruppe zunehmend verbal verstärkt aggressiver werden? Oder richtet sich die Aggressionsbereitschaft nur verstärkt gegen die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst?
Wie eure Erfahrungen damit sind, würde mich sehr interessieren. Freue mich, von euch was zu lesen.
Liebe Grüße
Byana
Bearbeitet von Byana
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