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"Popo" Zertifizierungen


SebastianL

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Ihr kennt das alle: Zertifizierungen! Die einen lieben sie, die anderen finden sie überflüssig, und ich denke mir: “Kommt drauf an.” Ich habe in meinem Leben einige Geschichten dazu zu erzählen. Meiner Meinung nach sagt eine Zertifizierung nichts darüber aus, ob du gut oder schlecht bist. Du kannst ein Zertifikat haben und trotzdem ein Trottel in dem Gebiet sein, oder du kannst keins haben und trotzdem richtig gut darin sein. Zertifikate zeigen nur, dass du dich eine Zeit lang mit dem Thema beschäftigt hast und dann eine Prüfung bestanden hast.

 

So war es auch früher mit “Agilen Methoden”, als eine der Geschichten, die ich erzählen möchte. Ich habe seit 2011 mein Scrum-Master-Zertifikat und bis 2018/2019 herum kein weiteres agiles Zertifikat erworben. 2016 habe ich mir alle Frameworks zur Skalierung angesehen und verglichen: SAFe, LeSS, Scrum of Scrums etc. Zu der Zeit haben wir aus sechs Teams in sechs Monaten dreizehn gemacht und massiv eingestellt, ohne dass die Produktivität nachgelassen hat – sie hat sich sogar linear skaliert. Das muss uns erst einmal jemand nachmachen. Im Austausch mit anderen, auch mit anderen Firmen, habe ich meine 5-Dimensionen-Fragen gestellt:

 

  • Wie sieht die Altersstruktur (Altersdurchschnitt und -verteilung) aus?
  • Wie ist die Architektur (Greenfield, gewachsen oder Blackbox – nicht dokumentiert)?
  • Gibt es eine Konvergenz (mehrere Prozessketten/Geschäftsbereiche/Interessen gleichzeitig bedienen)?
  • Wie viele Teams (ab sechs andere Arbeitsweisen)?
  • In wie vielen Ländern sitzt das Team und wo (Hofstede Power Distance Probleme)?

 

Meiner Erfahrung nach nimmt die Komplexität von agilen Projekten mit der Anzahl der Dimensionen exponentiell zu. Ich hatte bisher nur Projekte, bei denen alle fünf Dimensionen betroffen waren. Wenn ich mit anderen rede, wie gesagt, auch im Austausch mit anderen DAX-Unternehmen, dann haben diese in den Teams meist nur ein bis zwei Dimensionen. Das sind aus meiner Sicht ganz andere Herausforderungen und in der “Agile Maturity” eher im unteren Bereich.

 

Warum erzähle ich euch das? Damit klar wird, dass ich zumindest in Bezug auf die “Agile Maturity” doch sehr erfahren bin. Jetzt kommen da andere Leute daher, die nur ein bis zwei Dimensionen haben, zertifiziert sind und einem etwas vormachen wollen. Da reagiere ich wirklich allergisch drauf. Was ist die Konsequenz? Ich habe alle agilen Zertifikate nachgeholt. Das Lustige dabei war, dass die Dozenten mich immer gefragt haben, warum ich da sitze, da ich mehr Erfahrung habe als sie und den Kurs auch halten könnte. Einer hat mir sogar mal einen Job angeboten! Man merkt gerade bei agilen Methoden den Unterschied zwischen Theoretiker und Praktiker! Und nun ja, Zertifizierungen sind kein Garant dafür, dass der oder diejenige sich wirklich mit dem Thema auskennt.

 

Warum heute Zertifizierungsbashing?

Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich gerade TOGAF mache, TOGAF Foundations und Practitioner, um genau zu sein. Ich hatte auch erwähnt, dass ich im praktischen Teil (Practitioner) auf Anhieb durch bin, aber im Theorieteil (Foundations) zweimal durchgefallen bin. Gestern hatte ich meinen dritten Anlauf und habe bestanden – so viel schon mal vorweg! Sollte ich eigentlich nicht glücklich darüber sein? Vielleicht, aber ich bin ehrlich gesagt mega sauer! Fangen wir von vorne an: TOGAF ist für Enterprise Architekten das Framework schlechthin. Ich hatte ja gesagt, dass ich als IT-Architekt angestellt wurde, jetzt aber Leiter bin. Streng genommen brauche ich das Zertifikat nicht mehr, aber sich davor zu drücken ist auch keine Lösung. Es gibt eine Schulung über drei Tage und knapp 500 Folien sowie ein Handbuch von TOGAF, das auch ca. 500 Seiten hat, natürlich alles auf Englisch. Ich habe beim ersten Mal ordentlich gelernt und bin durchgefallen. Beim zweiten Mal war das Problem, dass sich ein kleiner Teil der Fragen wiederholt hat, und ich mir dachte: Die Antwort war beim letzten Mal falsch, also kreuze ich meinen zweiten Favoriten an. Das führte dazu, dass ich beim zweiten Mal schlechter abgeschnitten habe als beim ersten. Ich habe alle Architekten, auf deren Meinung ich etwas gebe und die durch die Prüfung gekommen sind, gefragt, wie sie es bestanden haben. Einer schickte mir einen Online-Simulator mit 670 Fragen. Die ersten Fragen kamen mir direkt aus der Prüfung bekannt vor! Toll, dachte ich mir. Hingesetzt und den Simulator ein paar Mal durchgemacht. Da fiel auf: Es sind nur zehn Fragen, bei denen die Antworten immer durchgemischt werden. Mein Rekord lag bei zehn Fragen in 1:10 Minuten - 100% Score. Blöd, das war’s. Also habe ich alle Fragen aus allen Unterlagen von allen Architekten zusammengetragen, in eine PowerPoint-Präsentation als Quiz gebaut und gelernt. Am Vorabend noch bis drei Uhr morgens – man will sich ja nicht die Blöße geben, schon wieder durchzufallen! Das wäre ja voll peinlich und ärgerlich für mich persönlich. Ich habe ungelogen 40 Fragen im Schnitt in drei Minuten perfekt beantwortet. Mit einem sehr guten Gefühl, dachte ich an mindestens 80%, ging ich in die Prüfung. Ich habe alle Fragen, bei denen ich mir absolut sicher war, beantwortet und alle anderen markiert und weitergemacht. Ich war in fünf Minuten mit allen 40 Fragen durch und hatte zehn Fragen sicher beantwortet! Zehn! Ja, richtig gelesen: zehn. Keine einzige Frage, die ich bearbeitet hatte, keine einzige Frage, die ich in den Prüfungen vorher hatte, kam dran. Alles komplett neu! Vorher war es bei Schaubildern so, dass man das Bild benennen musste: „Hier ein Bild, was ist das?“ und man hatte vier Auswahlmöglichkeiten. Dieses Mal waren in dem Bild Dinge rausradiert, und man musste sie aus vier Auswahlmöglichkeiten benennen, ja, genau, einzelne Wörter! Was soll das bitte für einen Sinn machen?! Ich hatte Fragen, Kombinationen, Lückentexte, Sätze und Wörter zum ersten Mal gesehen. Da kommen wir wieder zum Agilen: Eine “Product Owner”-Frage kam dran. Ich habe in allen Unterlagen danach gesucht und es kommt exakt zweimal vor! Aber die Frage konnte damit nicht beantwortet werden. Ich konnte sie nur durch mein agiles Wissen eventuell (kein Feedback über richtig/falsch) beantworten. So war es auch mit vielen Wörtern, die ich mir gemerkt hatte und anschließend gesucht hatte. Die kamen selten vor und nicht in dem abgefragten Kontext. Was habe ich also gemacht? Geraten! Vier Antworten, Ausschlussverfahren, es blieben nur noch zwei, und dann eine 50:50-Chance, die richtige Antwort zu treffen. Glücklicherweise habe ich dann 16 von 30 richtig geraten, sodass ich mit 26 von 40 Punkten (Bestanden ab einschließlich 25 von 40) bestanden habe. Und da sind wir beim Punkt: Ich habe es nicht geschafft, weil ich es wusste; ich habe es nicht geschafft, weil ich gelernt hatte. Ich hätte gar nichts lernen brauchen, früh ins Bett gehen können, und es hätte keinen Unterschied gemacht, keinen einzigen! Wäre ich durchgefallen – die Wahrscheinlichkeit war gegeben –, wüsste ich nicht, was ich machen sollte, um beim nächsten Mal zu bestehen. Wenn mich jemand fragen würde, was er machen kann, um zu bestehen, kann ich nur sagen: “Glück haben.” Könnt ihr meinen Unmut verstehen? Ja, ich habe bestanden, ja, es ist vorbei, aber ich frage mich: Was ist das Ziel des Ganzen? Limitation?

 

Als Nächstes steht eine ISO-Zertifizierung (IT-SM) an. Ich habe jetzt schon keine Lust darauf!

 

Kennt ihr sowas? Schon mal Ähnliches erlebt?

5 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Mein Verdacht: Es gibt viele Gelegenheiten, in denen mit Zertifizierungen richtig Geld gemacht werden kann. Und je nach Anbieter der Zertifizierung auch richtig Geld gemacht wird.

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vor 3 Stunden schrieb KanzlerCoaching:

Mein Verdacht: Es gibt viele Gelegenheiten, in denen mit Zertifizierungen richtig Geld gemacht werden kann. Und je nach Anbieter der Zertifizierung auch richtig Geld gemacht wird.

Ich hab schon oft gesagt, Zertifizierung ist eine Goldgrube und Rezertifizierung die Lizenz zum Gold drucken. Dazu hab ich mir oft überlegt, ein eigenes Zertifikat in irgendwas rauszubringen und als NFT Raus kamen, hatte ich sogar konkrete Ideen, diese aber wieder verworfen. Geld ist halt nicht alles.

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Das "Problem" (in Anführungszeichen, weil man es differenziert sehen muss): Hier in Deutschland wird sehr viel Wert auf formale Abschlüsse und Zertifikate gelegt - insbesondere dann, wenn man mglw. nicht durch Vitamin B in einen bestimmten Bereich kommt.

Einerseits sind Abschlüsse und Zertifikate ein messbares, (mehr oder minder) objektivierbares Kriterium, um neben nachgewiesener Berufserfahrung Kompetenzen nachzuweisen. Andererseits sagen sie vielfach eben nur aus, dass sich der/die Kandidat:in "irgendwie" durch die Prüfungen gezogen und diese bestanden hat.

Meine Meinung dazu: Viele Zertifikate sind ein guter Door Opener, um eine gemeinsame Sprache zu einem bestimmten Sachverhalt zu lernen. Und gerade bei Industriezerifikaten, die bspw. über Berufserfahrung erwerbbar sind (z.B. GPM IPMA ab Level C, TOG Open CA, BAG CBA), können (!) diese als verlässlicher Gradmesser für bestimmte Kompetenzen dienen. Am Ende sollten sich HR und Berichtsverantwortliche aber immer ein ganzheitliches Bild über eine Person machen. Denn am Ende zählt es (je nach Tätigkeitsbild) eben nicht primär, was jemand formal auf der Kette hat und mit einem Zettel auf der Feel-Good-Wand nachweisen kann, sondern ob er/sie Bock auf den Job und die Rahmenbedingungen hat.

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*Bereichsverwantwortliche Vorgesetzte - Übers Handy zu daddeln ist bei der Autorrektur immer noch für Wurstfinger wie mich eine Challenge...

 

Im übrigen kann ich mich @Indigo nur anschließen: Glückwunsch zur bestandenen Prüfung und willkommen im Club der TOGAF-Zertifizierten 😎

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