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Erstkontakt: Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeiten)


Vica

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Er habe manchmal das Gefühl, er sei nicht ganz er selbst, meinte der Patient, Anfang 20, am Morgen nach seiner Ausnüchterung in der Oberarztvisite. 
Na ja, meint der Oberarzt, kein Wunder, wenn man sich in dem Alter schon 4,0+ Promille in den Blutkreislauf zimmert. Da könne es ja schonmal vorkommen, dass man nicht ganz man selbst ist. 
Der Patient widerspricht, es sei eindeutig anders. Dass er so viel konsumiere, habe einen Grund, er käme nicht mehr klar mit den Symptomen. Dann wird zunächst mal nichts Ungewöhnliches beschrieben: Schlafstörungen, Angst- und Panikattacken im Alltag, depressive Verstimmungen. Der Oberarzt schaut gelangweilt weg. 

 

Dann aber beschreibt er ein Detail, dass ich schon auffällig  finde: Manchmal sei es, als werde er fremdgesteuert. Er kann von innen sehen, was passiert, aber rücke irgendwie nach hinten und sehe sich quasi selbst beim Handeln zu, als würde er fernsehen. 
Er sieht sich komische Dinge tun: Er isst Sachen, die er nicht mag, tut Dinge, die nicht mit seinen Werten vereinbar sind, tut Dinge, vor denen er eigentlich Angst hätte und hängt mit Leuten herum, die er nicht kennt. Er kann wie vor einem Bildschirm zuschauen, aber keinen Einfluss nehmen. Dies mache ihm extreme Angst.
Drogeninduzierte Psychose wird zunächst mal in seiner Akte stehen. 

Tatsächlich hat man als Suchtpatient/in etwas die Popokarte beim Diagnostizieren komplizierter Erkrankungen, so lange der Entzug nicht durch ist: Drogen + Entzug können so ziemlich alles mit einem anstellen, und oft hat man dann Zustände, die allen möglichen schwierigen psychischen Erkrankungen gleichen. 

Bevor man andere Dinge testet oder ausschließt, muss die somatische Detoxikation, wie der Entzug heißt, durch sein.

Der Entzug läuft aber ganz gut und er wird recht schnell substituiert. Doch die Angst vor der Fremdsteuerung bleibt. Auf STation wird durchaus beobachtet und berichtet, dass der Patient sich oft anders verhält. An manchen Tagen sei er extrem fröhlich und übermotiviert, an anderen liegt er nur im Bett, isst nicht, spricht nicht - es kommt die Verdachtsdiagnose "Bipolare Störung", wo sich Depression + manische, euphorische Phasen abwechseln. Aber das passt auch nicht so recht ins Bild.
Es fällt auf, dass die Psyche trotz Medikation nicht besser wird, das wäre dann ungewöhnlich für diese Verdachtsdiagnosen. 

 

Ebenfalls fällt mir auf, dass ihm nicht geglaubt wird. Oft wird ihm unterstellt, er simuliere und wolle hier lediglich zum Essen und schlafen bleiben. Das frustriert sogar mich. Immer dieses Misstrauen. Tragisch auch, weil er selbst auch berichtete, dass ihm niemand glaube. 

Auffallend ist, dass er selbst immer wieder Gefühle von Fremdsteuerung berichtet. Jemand übernehme seinen Körper, er bekomme alles mit, könne aber nichts dagegen tun, nur zuschauen. Er sei dann jemand anderes. Der Oberarzt will wissen, wie viele andere Ichs es so gibt und wie die sich unterscheiden. Tatsächlich kann er das nicht sagen. Für jede Gefühlslage scheint es ein Ich zu geben: Der Wütende, der Optimist, einer, der gerne diskutiert, ein anderer, der sehr aggressiv ist - und sogar einer, der blind ist. 
Schließlich wird die Diagnose "Dissoziative Identitätsstörung" vergeben.  

Im Volksmund bekannt als: Gespaltene Persönlichkeit. 

Das Thema wird sehr gerne medial aufgegriffen und ist Thema zahlreicher Filme. Dr. Jekyll und Mr.Hyde, Hulk, Psycho und vieles mehr sind erste Berührungspunkte, die die breite Bevölkerung mit dieser Erkrankung in Verbindung bringt. Aus dramaturgischen Gründen bezieht sich dann vieles auf die dissoziale Amnesie, d.h. die Betroffenen erinnern sich nicht an ihre Doppelleben. Sehr beliebt ist stilistisch auch, dass die Leute dann mit veränderter Stimme sprechen und selbst Kleinkind-Identitäten haben können. Das kommt natürlich vor, aber es ist sehr viel komplexer. 

 

Schlimm ist es, wenn in Filmen maßlos übertrieben wird und scheinbar völlig unbescholtene Bürger von jetzt auf gleich die Persönlichkeit wechseln, die dann natürlich ein Serienkiller ist.

Kein Wunder aber, dass diese Diagnose vielen Menschen Angst macht. 

Aber natürlich haben solche Dinge wenig mit der Realität zu tun.


Psychotherapeutisch ist dieser Art Fall für eine PiA im Anfangsstadium etwas zu krass, deswegen mache ich die meisten Gespräche mit dem Oberarzt zusammen.
Und nein...es ist nie so, dass während des Gesprächs eine Persönlichkeit verschwindet und dann auf wundersame Weise eine andere hervortritt 🙃

Ob er die Kontrolle über das "Spalten" hat, ist zunächst unklar - es ist schwer zu sagen, ob das bei ihm ein angewöhnter Prozess ist, um sich belastenden Situationen zu entziehen, oder ob es irgendwie passiert. 

Aber ersteres würde zu seiner Biographie passen, wo es so traumatische Kindheitserfahrungen gibt, dass man irgendwas das Straßenleben bevorzugt hat. Momente, wo es wichtig war, zu spalten- um sich bzw. das Seelenleben zu schützen.

 

Der gemeinsame Nenner bei diesem Patienten ist, dass die Identitäten scheinbar immer in Belastungssituationen wechseln. Auch schon in kleinsten:
Wenn die Ampel einfach nicht grün wird, wenn beim Bäcker ein Brötchen zu wenig eingepackt wurde, wenn er angepöbelt wird von Betrunkenen im Park, wenn das Geld alle ist, wenn der Suchtdruck kommt, wenn man Hunger hat. 
Therapeutisch kann man in unserem sehr eingeschränkten Setting auf Station mit wenig Zeit erstmal probieren, das Stigma abzubauen - keine Angst vor sich zu haben, trotz dieser Zustände. Und auch dass er erstmal seine Belastungssituationen so kennenlernt, also aktiv spürt: Was nervt mich, was verletzt mich, was ärgert mich.

Und auch das Gegenteil: Was freut mich, was regt mich an, was motiviert mich. 

Sehr wichtig wäre, das zugrunde liegend Trauma anzugehen und in einen biographischen Kontext zu bringen. Über sehr viele Jahre zumindest. 


Doch das ist schwer für einen Obdachlosen ohne Krankenversicherung, ohne Ressourcen und Rückhalt. So entlassen wir ihn zwar körperlich stabilisiert und in deutlich besserer Verfassung (Krankheitsakzeptanz gefördert), aber ich bezweifle, dass er danach jemanden gefunden hat, der sich um eine so komplexe Störung kümmert. :-(

Ich habe seitdem nie wieder jemanden mit dieser Erkrankung kennengelernt. 
Und das, obwohl meine Freunde denken, dass sie ca. 90% der Patienten in der Psychiatrie ausmachen. 😏



Bleibt gesund & offen für ungewöhnliche Krankheitsbilder,

LG

Feature Foto:  yaroslav_shuarev/pexels.com 
 

Bearbeitet von Vica

12 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Vor vielen Jahren hatte ich Kontakt zu einer Patientin mit diesem Störungsbild - der Umgang mit ihr war anspruchsvoll und bisweilen auch schwierig, denn man wusste nie so recht, mit welcher ihrer Persönlichkeiten sie in die Praxis kommen würde...

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Obdachlos ohne Krankenversicherung, wer bezahlt letztlich für diese Unterbringung und ärztliche Betreuung?

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Vica

Geschrieben (bearbeitet)

Am 21.6.2024 um 18:30 schrieb der_alex:

Obdachlos ohne Krankenversicherung, wer bezahlt letztlich für diese Unterbringung und ärztliche Betreuung?

Das war bei uns eine sehr häufige Konstellation.

Im Endeffekt ist der Träger solcher Kosten oft das Sozialamt.

Es sieht dann so aus, dass man mit solchen Patienten eher eine Notfallversorgung macht. Sie bleiben dann nur so lange, wie es medizinisch notwendig ist. Bei einer Detoxikation/Entzug bis zu 2 Wochen, bei Ausnahmen (z.B. Komplikationen) auch 3 Wochen.

Wäre er nicht langjährig drogenabhängig gewesen, sondern hätte nur 1x zu viel gebechert, hätte man ihn direkt am nächsten Morgen entlassen, sobald keine Eigen- und Fremdgefährdung mehr besteht. In der Regel auch ohne weitere Angebote wie Essen oder Duschen etc.

Wenn keine Krankenversicherung vorlag, gab es ein paar Bedingungen - z.B. sollten Psychologen-Gespräche dann nur 25 Minuten statt 50 dauern, Bezugspflegergespräche oder Ergo, Kunst- und Gruppentherapie fielen ebenfalls flach. TEure Subsitute gab es ebenfalls nicht. Langzeittherapieplätze oder eine Anbindungbehandlung etc. wären dann auch nicht drin.

Darum ist der Sozialdienst auf solchen Stationen sehr wichtig. Der Sozialarbeiter hat das oft noch so gedreht, dass der Patient einen Obdachlosenheim-Platz + gesetzlichen Betreuer bekam, dadurch konnte dann auch sehr schnell eine Krankenversicherung abgeschlossen werden. Ich glaube, dass die dann auch rückwirkend zahlen oder aber sich die Kosten mit dem Sozialamt teilen, das weiß ich leider nicht genau.

LG
 

Bearbeitet von Vica
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Am 20.6.2024 um 16:07 schrieb Indigo:

Vor vielen Jahren hatte ich Kontakt zu einer Patientin mit diesem Störungsbild - der Umgang mit ihr war anspruchsvoll und bisweilen auch schwierig, denn man wusste nie so recht, mit welcher ihrer Persönlichkeiten sie in die Praxis kommen würde...


Spannend. Hast du mit ihr über andere Anteile gesprochen?
 

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Ich folge "den Bonnies" bereits länger auf Instagram,  wo sie über die Dissoziative Persönlichkeit aufklären,  hier mit vielen verschiedenen Personen,  die sich im Außen zeigen:

 

https://www.instagram.com/reel/C8kGMAPImM9/?igsh=anZvMGFva29mbHQ3

 

Spannend finde ich hier auch,  dass es teilweise unterschiedlich Sehstärken und auch Allergien gibt bei den unterschiedlichen Personen, das macht die Komplexität dieser Diagnose noch einmal größer.

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vor 7 Stunden schrieb Vica:


Spannend. Hast du mit ihr über andere Anteile gesprochen?
 

 

Ja, ich habe mich durchaus mit ihr über ihre anderen Anteile unterhalten und sie hat - sehr zu meinem damaligen Erstaunen berichtet - dass sie manche dieser Anteile (aber keineswegs alle) kennt und somit auch merkt, wenn diese die "Kontrolle übernehmen", dies jedoch nicht beeinflussen könne...

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@VicaEine von meinen 2 besten Freundinnen hat auch mit der DIS zu kämpfen. Vorallem weil sie Studentin ist und ihr niemand helfen möchte im ganzen System. Sie findet keine Klinik die sie aufnehmen würde und die sie findet sind alle privat und das kann sie sich als Studentin nun mal nicht leisten. Ich finde es wirklich tragisch das wenn man kein Geld hat man alleine gelassen wird. Sie hat mittlerweile 3 Persönlichkeiten oder Anteile. Das schlimmste ist das ihr Peiniger vom Gesetz beschützt wird und sie muss zu Hause bleiben und darf nicht mehr alleine raus oder Auto fahren. Es muss doch eine Möglichkeit geben das man sich die Kostenübernahme irgendwie rechtlich verschafft. Ich wollte fragen ob Sie sich dahin gehend auskennen oder ob Sie interesse hätten eine weitere Patientin mit diese Diagnose zu treffen?

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Vica

Geschrieben (bearbeitet)

Da kann ich selbst leider nicht helfen, denn ich arbeite seit einigen Jahren nicht mehr im klinisch-stationären Bereich (wo ich aber auch keinen Einfluss auf Patientenaufnahme gehabt hätte) und bin nur Ausbildungsteilnehmerin unter supervisorischer Aufsicht. Das heißt auch, ich kann mir meine Patienten nicht direkt aussuchen. Fälle dieser Art sind für PiAs nicht vorgesehen, unser Einfluss und unsere fehlende Erfahrung wird dem Krankheitsbild nicht gerecht.

Hier auf fernstudium-infos.de teile ich nur meine Erfahrung mit gewissen Krankheitsbildern, die mir während meines Praktikums begegnet sind. Aber immer mehr aus akademischen Gesichtspunkten, bzw. in Relation dazu: Wie ging es weiter nach dem Fernstudium Psychologie und stellt einen das Studium gut auf für das, was einen erwartet?🙂

Diese Erkrankung gehört stattdessen definitiv in erfahrene, medizinische Hände. Ich würde es daher mal in einer ambulanten psychiatrischen Praxis versuchen, sprich beim Psychiater, auch wenn er wie alle Fachärzte etwas Wartezeit haben kann (man kann immer auch vorrücken). Der kann alles weitere anbahnen, z.B. Klinik-Voranmeldungen, Medikation und ggf. auch Psychotherapie. Auch mit dem Hausarzt in Verbindung bleiben.

Alles Gute & nicht aufgeben! Ich kann mir gut vorstellen, vor welche Herauforderungen einen das Gesundheitssystem stellt 😒

LG

Bearbeitet von Vica
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vor 21 Stunden schrieb Vica:

Da kann ich selbst leider nicht helfen, denn ich arbeite seit einigen Jahren nicht mehr im klinisch-stationären Bereich (wo ich aber auch keinen Einfluss auf Patientenaufnahme gehabt hätte) und bin nur Ausbildungsteilnehmerin unter supervisorischer Aufsicht. Das heißt auch, ich kann mir meine Patienten nicht direkt aussuchen. Fälle dieser Art sind für PiAs nicht vorgesehen, unser Einfluss und unsere fehlende Erfahrung wird dem Krankheitsbild nicht gerecht.

Hier auf fernstudium-infos.de teile ich nur meine Erfahrung mit gewissen Krankheitsbildern, die mir während meines Praktikums begegnet sind. Aber immer mehr aus akademischen Gesichtspunkten, bzw. in Relation dazu: Wie ging es weiter nach dem Fernstudium Psychologie und stellt einen das Studium gut auf für das, was einen erwartet?🙂

Diese Erkrankung gehört stattdessen definitiv in erfahrene, medizinische Hände. Ich würde es daher mal in einer ambulanten psychiatrischen Praxis versuchen, sprich beim Psychiater, auch wenn er wie alle Fachärzte etwas Wartezeit haben kann (man kann immer auch vorrücken). Der kann alles weitere anbahnen, z.B. Klinik-Voranmeldungen, Medikation und ggf. auch Psychotherapie. Auch mit dem Hausarzt in Verbindung bleiben.

Alles Gute & nicht aufgeben! Ich kann mir gut vorstellen, vor welche Herauforderungen einen das Gesundheitssystem stellt 😒

LG

Vielen Dank für die Antwort und deine Vorschläge. 

LG

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Der Beitrag ist zwar schon nicht mehr ganz frisch, aber hier werden bestimmt auch nach und nach immer wieder interessierte Personen lesen :) Daher möchte ich noch die Interviews der Techniker Krankenkasse zu diesem Thema hier empfehlen. Es gibt zwei Teile, dies ist Teil 2, in dem Betroffene interviewt werden. 

Zu diesem Thema ebenfalls empfehlenswert ist eine Folge des Podcasts "Jung und Freudlos"  und eine Folge des Podcasts "Rätsel des Unbewussten." 

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