Mein Fernstudium, meine ADHS und ich.
Meine ADHS, also meine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, begleitet mich schon mein ganzes Leben - sicher weiß ich das aber erst seit anderthalb Jahren.
Ohne von der Diagnose zu wissen, habe ich meine Lern- und Arbeitsstrategien gezwungenermaßen immer mal wieder angepasst und bin inzwischen an meinem Punkt in meinem Akademikerinleben angekommen, in dem ich von mir behaupten würde, dass ich gut weiß, was für mich funktioniert und was nicht. Einige dieser Erkenntnisse möchte ich heute teilen, auch, um vielleicht anderen ADHSler*innen oder Interessierten einen Einblick in das Lernen und die Lernorganisation mit ADHS zu geben.
1.) Ich tue immer das, was mir gut tut und nicht das, was andere Menschen empfehlen, wenn es um Lerntechniken und Arbeitsorganisation geht. Ich denke, dieser Tipp gilt generell für jeden Menschen, ich möchte das Verständnis um diesen Tipp aber erweitern: als ich 2016 mit meinem Bachelorstudium begann, las ich häufig Organisationstipps wie "Eat the frog" oder "Erst die Arbeit dann das Vergnügen". Ich habe mich oft durch diese Tipps unter Druck gesetzt gefühlt, weil sie bei mir nur dazu führten, dass ich, wenn ich "die Schwerste" meiner Aufgaben priorisierte, erstrecht nicht vorankam. ADHS beeinflusst die exekutiven Funktionen, das heißt, dass vielen ADHSler*innen planvolles Handeln, priorisieren oder sich auf Neues einstellen, sehr schwerfällt; wenn dann auch noch ein Ungleichgewicht hinsichtlich der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin vorliegt, kann man sich vielleicht ausrechnen, dass diese Organisationstipps für einen selbst nicht immer funktionieren. Ich starte daher häufig mit der leichtesten Aufgabe oder der, die mir am meisten Spaß macht, um mir einen niedrigschwelligen Start in meine Aufgaben zu ermöglichen und in den "Flow" zu kommen. Fällt es mir besonders schwer meine Aufgaben zu beginnen, denke ich aktiv über Dinge nach, die mir vorher ein gutes Gefühl geben könnten: Fahrrad fahren, Fußball gucken, ein Buch lesen, ein Bad nehmen, ne Tasse Tee, whatever. Meistens funktioniert das sehr gut für mich.
2.) Ressourcen nutzen. Egal, welche guten Strukturen man sich über die Jahre erarbeitet, man hat am Ende des Tages immer ADHS und wird eingeschränkt bleiben. Insbesondere deshalb finde ich es so wichtig, dass man nach Ressourcen sucht, die einem helfen können, handlungsfähig zu bleiben. Ich habe einen Nachteilsausgleich im Studium und prüfe gerade, inwiefern ich diesen auch in meiner Masterarbeitszeit anwenden kann. Ich nutze Plattformen wie Focusmate, um mit anderen zu lernen, weil diese Verantwortlichkeit mir hilft, Vorhaben durchzuziehen und voranzukommen, wenn ich feststecke. Ich nutze den Austausch mit anderen Betroffenen, auch in Studiengangsgruppen für Menschen mit Beeinträchtigungen. Für mich besonders wichtig: ich nehme Medikamente ein und schäme mich für diese nicht. Sie sind wie meine Brille: sie helfen mir, Aufgaben sichtbar zu machen und mich besser zu strukturieren, ich bin aber immer noch selbst dafür verantwortlich, die Aufgaben umzusetzen.
3.) Ich langweile mich schnell - lernen muss also kreativ sein! Insbesondere Klausurvorbereitungen sind die langweiligsten Phasen meines Studiums gewesen, weil sie sich so lange ziehen. Ich habe schnell gemerkt, dass ich dort nicht weiterkomme, wenn ich meine Kreativität nicht einsetze, um den Stoff zu verinnerlichen. Ideen, die sich bisher bewährt haben: Präsentationen über Lektionen erstellen und anderen vorstellen, Lerngruppen beitreten, Lektionsinhalte in bunte kreative Plakate malen, Comics über den Lernstoff erstellen, mit einem Zufallsgenerator würfeln, welche Karteikarte ich als nächstes lerne, eigene Podcasts über meinen Stoff erstellen. Egal was, hauptsache es funktioniert und hält mich bei Laune, um mich weiterhin mit den Inhalten beschäftigen zu können.
4.) Bloß keine Tagesziele! Ständig sehe und bewundere ich andere Studierende, die in ihren Kalendern tagesaktuell festhalten, was sie schaffen möchten und ihre Tagesziele dann erreichen. Ganz lange habe ich mich selbst abgewertet, weil ich das nicht schaffe, ist ja auch logisch, wenn das Energielevel jeden Tag anders ist. Inzwischen formuliere ich Wochenziele und lege spontan fest, was für den jeweiligen Tag realistisch umsetzbar ist - das motiviert mich und meine Ziele werden trotzdem erreicht.
5.) Wenn Routinen für einen Tag funktionieren, war das ein erfolgreicher Tag und kein Misserfolg. Eine zeitlang habe ich immer wieder versucht, neue "Routinen" einzuführen, um mein Studium besser zu strukturieren, nur um völlig demotiviert zu sein, wenn ich sie nach zwei Tagen aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr umsetzen konnte. Diese Erfahrung fühlte sich schnell wie ein persönliches Scheitern an, dabei haben diese Routinen ein, zwei Tage gut funktioniert und mich weitergebracht, auch, wenn ich sie danach anpassen oder verwerfen musste. Der Weg ist das Ziel!
6.) Regelmäßig verschriftlichen, was ich bereits erreicht habe. Ich verliere schnell aus den Augen, was ich bereits geschafft habe und konzentriere mich genauso schnell nur auf die Aspekte, die noch nicht gelingen. Meine Studiumserfolge mache ich sichtbar, indem ich in meinem Schlafzimmer meinen Studiumverlaufsplan aufgehangen und bereits bestandene Module grün markiert habe, ebenso hilft mir dieser Blog eigene Erfolge in Erinnerung zu halten und wertzuschätzen.
Letztlich ist der eigene Lernprozess und die Organisation der Lernzeiten sehr individuell, ich denke aber, dass viele ADHSler*innen durch bisherige Sozialisations- und Schulerfahrungen häufig negative Gedanken mit dem Lernen verbinden. Insbesondere deshalb ist es mir ein großes Anliegen zu betonen, dass die Entwicklung eigener Strategien wichtig ist, um handlungsfähig zu bleiben, es dennoch wesentlich ist, anzunehmen, dass man nicht ist wie andere und diese Einsicht nicht nur eine große Ressource, sondern auch völlig okay und GUT ist.
Vielleicht gibt es ja hier noch andere Betroffene - welche Tipps oder Einsichten würdet ihr gerne teilen?
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